Diese Übung richtet sich an eine Lerngruppe, in der sich keine Person mit Beeinträchtigung befindet. Bitte beachten Sie, dass Beeinträchtigungen nicht immer sichtbar sind und/oder Sie Kenntnis davon haben. Sehen Sie im Zweifelsfall von der Durchführung der Übung ab. Der Rollstuhlparcours für Teil 4 sollte nicht zu lang sein, planen Sie 5 Minuten pro Teilnehmer*in ein. Rollstühle können Sie eventuell in einem Krankenhaus ausleihen, in einer Senioreneinrichtung oder bei einer Organisation, die Rollstühle zum vorübergehenden Gebrauch verleiht. Alternativ können Sie auch komplett auf den Rollstuhlparcours verzichten. Stattdessen diskutieren Sie mit den Teilnehmer*innen über den Text: The problem with “Spend a Day in a Wheelchair” (Das „Ein-Tag-im-Rollstuhl“-Problem) von Jeffrey Preston, übersetzt und ergänzt von Raul Krauthausen.
Das „Ein Tag im Rollstuhl“-Problem
„Die meisten Befürworter des „Ein Tag im Rollstuhl“-Experiments – mich eingeschlossen – denken, dass die Unkenntnis der Menschen, was das Leben mit Behinderung angeht, der zentrale Grund für die Benachteiligung von Menschen mit Behinderung ist. Die Welt ist eben für Nichtbehinderte gebaut. Abweichende Bedürfnisse werden oft gar nicht mitgedacht. Seit Jahren werden deshalb „Ein Tag im Rollstuhl“-Experimente veranstaltet, bei denen Nichtbehinderte eine bestimmte Behinderung zugeordnet bekommen und verschiedene Aufgaben erfüllen sollen. Sie bekommen die Augen verbunden, schlüpfen in einen Alterssimulationsanzug oder setzen sich in einen Rollstuhl. Die Idee dahinter ist, dass durch dieses Ausprobieren Nichtbehinderte sich in ein Leben mit Behinderung hineinversetzen und auch aufkommende Probleme besser verstehen können.
Je mehr ich solche Experimente erlebt und begleitet habe, desto weniger kann ich sie empfehlen: Solche Experimente können, wenn sie unreflektiert als schnelle “pädagogische” Maßnahme ohne ein sauber durchdachtes Konzept durchgeführt werden, mehr Schaden anrichten, als dass sie Gutes bringen. (…) Letztendlich ist es frustrierend für die TeilnehmerInnen, wenn sie durch Stufen aufgehalten werden, aber die wahren Ängste und die Isolation, die permanent durch fehlende Barrierefreiheit entstehen, nie in ihrer gesamten Tiefe vermittelt werden können. Während des ganzen Experiments wissen die Menschen, ob bewusst oder unbewusst, dass ihre Einschränkungen nur temporär sind und sie den Rollstuhl (zum Glück) bald verlassen oder die Augenbinde bald ablegen können. Deswegen spielen sie eben nur behindert und sehen das Experiment als Herausforderung, die es zu gewinnen gilt. Das ist problematisch, weil es auch bei den ZuschauerInnen eine Art Sensationslust weckt: Bewusst oder unbewusst wollen sie die TeilnehmerInnen bei ihren Mühen und kleinen Erfolgen in der “Rollstuhl-Challenge” beobachten. Am schlimmsten ist, dass aus diesem Spiel Gewinner und Verlierer hervorgehen. Dadurch kann der Eindruck entstehen, dass Menschen mit Behinderungen sich nur mehr anstrengen müssen, um über ihre Behinderung hinwegzukommen. (…)
Einigen Stufen ausgesetzt zu sein ist nichts im Vergleich dazu, gegen Vorurteile bei der Arbeitssuche zu kämpfen, sich der Zerreißprobe namens Amt zu stellen oder den Tag zu planen, wenn im Alltag ein Netz aus verschiedenen Unterstützungen oder Assistent*innen benötigt wird. Die Planung ist wahrscheinlich eines der anstrengendsten Aufgaben, die das Leben mit permanenter Behinderung mit sich bringt – und das kann nicht innerhalb einiger Minuten (oder eines Tages) im Rollstuhl simuliert werden! (…)
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die TeilnehmerInnen nach dem „Tag im Rollstuhl“ feststellen, wie schwer das Leben mit Behinderung ist. Sie merken, dass nicht alles erreichbar ist, dass es anstrengend ist, sich im Rollstuhl fortzubewegen und dass Fremde sie in der Öffentlichkeit anstarren. Statt mehr Verständnis zu schaffen, bestätigen solche Experimente oft nur das Vorurteil von Mitleid und lösen gleichzeitig das Gefühl aus, es gäbe einfach zu viele Barrieren, um Barrierefreiheit jemals verwirklichen zu können. In diesem Sinne macht „ein Tag im Rollstuhl“ nichtbehinderte Menschen einfach dankbar, dass sie keine Behinderung haben und verstärkt sogar die Trennung zwischen denen mit und denen ohne Behinderung. (…)
Es hängt weitgehend von der Gruppe ab, wie Sie diese Übung durchführen. Machen Sie allen bewusst, dass hier verschiedene Alltagssimulationen durchgespielt werden, die Gelegenheit bieten, mit den eigenen Gefühlen und Reaktionen auf Beeinträchtigungen, Barrieren und Behinderung zu experimentieren. Erklären Sie, dass es nicht darum geht, jemanden lächerlich zu machen, unzulässig unter Stress zu setzen oder in peinliche Situationen zu bringen.
Wenn die Zeit nicht für alle Simulationen reicht, dann begnügen Sie sich mit einer oder zwei. Diese Übung versucht, einen ersten Einblick in den Alltag von Menschen mit einer Beeinträchtigung zu geben und auf Barrieren aufmerksam zu machen. Greifen Sie ein, wenn die TN etwas Gefährliches tun oder sich über Menschen mit Behinderungen oder über einzelne TN lustig machen. Gegebenenfalls können Sie in der Nachbereitung darauf zurückkommen und zum Beispiel fragen: Wann machen sich Leute über Menschen mit Behinderungen lustig? Wer tut das und warum? Wie erkennt man die Grenze zwischen Humor und Beleidigung?
Es ist unmöglich, die Simulation von Beeinträchtigungen und ihr Wechselspiel mit umweltbedingten Barrieren so zu gestalten, dass die Lebensrealität von Menschen mit Beeinträchtigungen und ihre Einschränkungen in der gleichberechtigten Teilhabe angemessen abgebildet und erfahrbar gemacht werden können. Vielmehr besteht das Risiko, dass in einem Rollenspiel Stereotypen reproduziert und gefestigt werden und eine Verkürzung auf das medizinische und defizitäre Verständnis von Behinderungen stattfindet. Für die Durchführung und Auswertung einer solchen Simulationsübung ist es wichtig, sich dieser Grenzen bewusst zu sein und die eigenen Vorstellungen und die Ausgestaltung der zugewiesenen Rolle zu reflektieren.